Kyiv, Spaziergang zum Maidan

03.10.2023

Unser Zug war gut gefüllt, unterwegs stiegen immer wieder Leute zu und aus. Wenn er knapp 120 km/h fuhr, war das viel, meistens ging es mit um die 60 km/h durch die dünn besiedelte Weite. Die ganz Strecke ist elektrifiziert. Aber die Gleise sind offenbar in keinem guten Zustand. Und es gibt oft keine verschweißten Stöße, sondern die Fahrgestelle rumpeln über die Laschen der verschraubten Schienen, was zu diesem seltsam beruhigenden  „Tatamm, tatamm-Rhythmus“ der Fahrgestelle führt.

Geschlafen habe ich so gut wie nicht. Die Sitze sind einfach zu beengt. Hatte ich meine Beine in den Gang ausgestreckt, wollte jemand mit seinem Koffer drüberstolpern oder tat dies auf dem Weg zur Toilette. Aber endlich weckte mich auf diese Weise gegen 5 ein junger Mann mit dem Wagen, von dem er Tee, Kaffee und ein etwas weiches Croissant verkaufte.

Noch ein Wort zu den Monitoren, die in Dauerschleife immer die gleichen Clips, aber nie Ankunftszeiten und Bahnhöfe zu erkennen gaben. Es laufen Aufklärungsfilme zu Depressionen, Trickfilme für Kinder, die keine Minen anfassen sollen, wenn sie spielen, Werbung für Notstromaggregate, Ermutigende Filme über wiederaufgebaute Schulen und damit eben doch auch kriegsrelevante Inhalte.

Mein kurzer Schlaf bescherte mir eine wunderbare Morgendämmerung. Die flache Landschaft inszeniert den Sonnenaufgang perfekt. Nebel stehen in den Wissen, ab und zu überquert man kleine Flüsse.

Erst gegen 11 kamen wir in Kyiv an. Von dem Bahnhof, den ich aus der Zeit vor 48 Jahren eerinnerte, war nun noch wenig zu sehen. er wurde natürlich modernisiert. Als erstes haben wir SIM-Karten gekauft. Ich habe ab sofort eine ukrainische Nummer mit ordentlich Datenvolumen.

Vor dem Bahnhof hatten wir ein wenig Feilscherei mit Taxifahrern. Die drei Kilometer zu unserem Quartier sollten ursprünglich 20,00 € kosten, zum Schluss haben wir 10 € bezahlt, immer noch ein wenig zu viel. Aber der Fahrer sprach ein wenig Deutsch, ich mutig Russisch, und wir wurden gleich mit einer interessanten Familiengeschichte konfrontiert. Großmutter und Schwester leben bei Wolfsburg, der Schwager hat nicht nur einen deutschen Pass bekommen, er arbeitet auch als Lehrer. Die Mutter wiederum brachte unseren Fahrer im Norden Kasachstans zu Welt, weil die Familie 1944 mit vielen anderen Krimtataren nach Kasachstan deportiert wurde. Von einer Bekannten in Jena wusste ich, dass bei dieser Aktion mitten im Winter viele der so Verfrachteten in den Viehwaggons erfroren sind. Auch deren Familie war Opfer dieser typisch stalinschen Maßnahme.

Als wir unser Quartier erreichten, empfing uns Daniel, ein Vertrauter unseres Gastgebers, der uns offenbarte, dass es einen Wasserschaden gegeben hatte. Wir konnten uns kurz waschen, die Zähne putzen, dann tropfte es nur noch aus den Hähnen, die Reste des Rasierschaums musste ich mit einem Hygienetuch abwischen. So zogen wir erst mal in die Kaufhalle für einen Grundeinkauf an Lebensmitteln. Die sind etwa so teuer wie in Deutschland. Es gibt eigentlich alles, auch viele westeuropäische Markenprodukte, leider keine Orangen.

Beim Verstauen der Lebensmittel war das Wasser immer noch tot und Daniel warnte uns, es könnte auch morgen noch außer Betrieb sein. Daniel nahm sich Zeit, uns die Tricks des Fahrens mit Bolt und Taxis zu erklären. Hier schwanken die Taxipreise in Abhängigkeit von Tageszeit und Wetter (!).

Dann zogen wir in ein Café für ein kleines Getränk, aber eigentlich für einen großen Toilettenbesuch. Es gab Cremetorte mit frischen Pflaumen.

Einmal draußen wollten wir noch zum Maidan laufen. Der ist etwa drei Kilometer von uns entfernt. Der Weg passiert das Fußballstadion und den Kreschtschatik, die alte Prachtstraße mit protzigen Bauten aus der Stalinzeit. Und hinter dem Maidan kann man auf dem Hochufer des Dnjepr auf einem neu gebauten Skywalk die ganze Flussebene überblicken, grün und breit mit den endlosen Neubaugebieten am anderen Ufer des Flusses.

Der Platz vor dem Stadion mit der Station „Olympiski“, nicht weit von unserem Quartier
Die Stadt ist mehr als autokonform gebaut. Überall gibt es Tunnels zur Unterquerung der oft vierspurigen Einbahnstraßen
Prachtbauten am Kreschtschatik
Doch wenn am einen der Torbögen durchschreitet, sieht es of so aus…
Die Stadt ist sehr dynamisch. Überall wird gebaut, saniert, vermietet
Der Maidan. Von der Terasse des Hotels im Hintergrund ließ Janukowitsch auf die Demonstranten schießen, die protestierten, weil der damalige President eine Abkehr von der EU und eine Hinwendung zu Moskau vollziehen wollte.
Skywalk am Hochufer des Dnjepr mit Blick auf Podil und den östlichen Teil der Stadt
Auf dem Platz vor dem Verteidigungsministerium

Die Stadt quillt über von jungen gut gelaunten Menschen, die so bunt und phantasievoll gekleidet sind wie die jungen Menschen in Berlin auch. Wieder ein Eindruck, der so gar nicht zu der Zeit passt, die die Ukraine gerade durchlebt. Unwillkürlich schaut man nach Zeichen des Krieges. Die gibt es natürlich: riesige Plakate an Hauswänden, die für den Beitritt zur Armee werben, Studenten, die Spenden sammeln, ab und zu ausgebrannte Panzer des Gegners vor öffentlichen Gebäuden. Und sehr oft Tafeln vor Behörden, die mit vielen Porträts an die Gefallenen erinnern. Immerhin, dieser Krieg scheint den unbekannten Soldaten zumindest in der Ukraine nicht zu kennen.

Die Mauer des Michaelsklosters ist mit besonders vielen Porträts beklebt. Die traurige Zeitreihe beginnt 2014 und ist dort noch nach Jahrgängen geordnet. Aber mit dem 24.02.2022 explodiert die Zahl der Porträts nahezu, Stile und Formate gehen wild durcheinander, und frische Blumengebinde stapelnd sich am Fuß der Mauer. Mir sticht es ins Herz, wenn ich lachende Jungs auf den Bildern sehe, die vermutlich jünger waren als mein jüngster Sohn, als sie fielen. Begegne ich Uniformierten in der Stadt denke ich immer: kommt der nach Haus vom Dienst im Ministerium? Oder hat er Fronturlaub, welch deutsches Wort! Es lässt die blöde Assoziation zu, man könne an der Front Urlaub machen. Aber es ist auch kein Urlaub, während es Krieges bei der Familie zu sein. Ich erinnere mich an die „Urlaube“ meiner Armeezeit. Jede Minute scheint kostbar. Man steht unter dem Druck der unerbittlichen Abreise und kann nichts wirklich genießen. Und hier steht alles noch unter der Drohung des letzten Males, der ausbleibenden Wiederkehr.

Wir waren Essen in der Stadt, sind ein Stück mit der Metro gefahren. Und als wir zurückkamen ging das Wasser wieder.