Rohre und ein Bericht aus Moskau

16.10.2023

Heute Morgen ein Frühstück mit Xenia. Sie kommt aus Kyiv, lebt aber als Kuratorin die meiste Zeit in Paris. Der Kontakt kam über einen gemeinsamen Freund in Berlin, und sie besuchte unsere Ausstellung am Samstag. Mit Ihr kam ihr Bruder, und mit ihm hatten wir ein wirklch interssantes Gespräch.

Dima wohnte 20 Jahre in Moskau und arbeitete dort in der Werbeindustrie. In Moskau blieb seine zwölfjährige Tochter und deren russische Mutter zurück, denn er entschloss sich, mit Ausbruch des Krieges Moskau zu verlassen und nach Kyiv zurückzukehren. Bei der Ausreise nach Litauen erlebte er das russische System noch einmal hautnah. An der Grenze hatte er sich auszuziehen, er wurde auf proukrainische Tätowierungen untersucht. Dann nahmen in zwei Geheimdienstoffiziere ins Kreuzverhör. Dass das auf ihn zukommt, wusste er von Freunden. Er hatte sich auf dieses Verhör gründlich vorbereitet: immer das gleiche erzählen, stur bleiben usw. Über Polen ist er dann in die Ukraine eingereist.

Dima konnte uns sehr viel über die Situation in Russland erzählen. Moskau, so sagte er, war in den letzten 20 Jahren eine Goldgrube, ein Paradies für Unternehmer, alles war möglich. In der Folge haben sich viele der Erfolgreichen und eigentlich Liberalen „entpolitisiert“. Ein russischer Philosoph habe den Spruch geprägt: „Der russische Faschismus basiert auf Wohlstand.“ All das wird überschattet durch eine extreme Willkür bei Polizei und Justiz. Wir erfahren von solchen Fällen, wenn die Opfer prominent sind. Aber zahlreiche Namenlose geraten wegen Nichtigkeiten in die Fänge korrupter Polizisten. Dabei geht es nicht nur um politische Äußerungen, sondern auch um ganz normale Widerspenstigkeiten gegen behördliche Entscheidungen. Zehn Jahre im russischen Knast sind immer mit Lebensgefahr verbunden. Polizisten, Strafvollzugsbeamte unterliegen keiner wirklichen Kontrolle.

Die russische Gesellschaft lebe in verschiedenen Sphären: der Taxifahrer ist komplett abgeschottet von der Wirtschaftselite, von der Bubble der Startups. Aber er will auch nichts zu tun haben mit der Landbevölkerung, schon gar nicht mit Burjaten, Tschuktschen und ihresgleichen. In den abgehängten Regionen haben Propaganda und die Werber des Militärs leichtes Spiel. Man kann an den Reden der Leute hören, ob sie mit VPN Zugang zu unerwünschten Websites haben oder ob sie den ganzen Tag fernsehen. Schlimm sind die Alten, die die Zeiten der Stabilität unter Putin feiern, weil alles so schön sicher ist, der Wohlstand wächst. Vom Krieg wollen viele einfach nichts wissen. Wer Geld hat, kauf sich frei. Es kämpfen die Armen und die Dummen. Und das ist ein großer Unterschied zur Ukraine, sagt Dima, denn hier kämpft jeder, egal welcher Schicht er angehört, weil es um die Verteidigung des Landes geht. Bitter ist nur, dass auch die Klugen und Talentierten zu Opfern werden.

Ja, das ist der Grund von Xenias Aufenthalt in Kyiv. Ein Schulfreund verlor beide Beine, ist hier im Krankenhaus, ein Filmemacher, der eigentlich der richtige Mann für Drohnen gewesen wäre, aber im Schützengraben landete, zweimal knapp überlebte. Und wenn es geht, wieder an die Front will zu seinen Jungs.

Keiner weiß, wie es weitergeht nach Putin. Nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands gab es die Alliierten, die aufgeräumt haben und mit ökonomischem Einfluss viel verändern konnten. Russland wird nicht einfach zusammenbrechen. Vielleicht nutzen abtrünnige Regionen die Schwäche des Systems und lassen das alte Imperium weiter erodieren. Aber ein Fegefeuer, vergleichbar mit dem Zusammenbruch Deutschlands, wird es vermutlich nicht geben. Eine gewachsene demokratische Opposition muss man leider vernachlässigen.

Das war unser Vormittag.

Aber dann wieder auf den Baumarkt (und morgen früh nochmal): Zeug kaufen für unsere Skulptur. Diesmal haben wir eine halbe Stunde versenkt, weil wir nach einem Gerät gesucht haben, mit dem man Styropor schneiden kann, mit einer Art heißen Klinge. Vergeblich. Es ist überhaupt mühsam, die Aufschriften auf den Produkten zu verstehen, wenn sie denn nicht (wie so oft) auf Detusch sind. Beinah hätten wir uns verzockt: eine Rolle Armierungsgewebe kostet nicht 53 Griwna, sondern nur der Meter. Das hat die Dame an der Kasse zum Glück erklärt.

Doch dann wurde Norman vor dem Baumarkt noch kreativ: er fand ausrangierte Lüftungsrohre mit großem Durchmesser, ganz gut für die Simulation eines Lüftungsschachtes. Von den Dingern wollten wir ein paar mitnehmen. Das geht aber nicht mit einem BOLT-Fahrer. Da sahen wir einen Herrn in einen großen Transporter steigen. Wir rannten hin und fragten, ob er uns die Teile zum Institut transportieren kann, natürlich gegen Bezahlung. Er sagte: ok, wenn es an meinem Weg liegt? Hoffungsvoll hielten wir ein Telefon mit Google-Maps hin. Wir hatten Glück. Wolja lud alles in sein Auto und wir fuhren los. Das war der Hammer, und: Geld wollte er dafür nicht. Während er beim Ausladen half, gab ich ihm meine Visitenkarte: Falls er oder seine Kinder mal in Berlin ein Quartier brauchen – herzlich willkommen.

Im Studio bestaunten wir erst mal unsere Schätze. Plötzlich kam Besuch aus den USA, ein Journalist der New Yorck Times. Wir haben uns kurz unterhalten, dann noch Besuch im Atelier von Sana, die in drei Tagen zu ihrer Mutter nach Toronto fliegt. Wieder nicht so richtig geschafft, was wir eigentlich schaffen wollten. Morgen geht’s weiter.