Tag 51 der Reise, Ruhetag in Udine

21.10.2022

Mindestens die Hälfte des Tages benötige ich immer für allerlei Bürokram, Wäsche, Schuhpflege, Planungsupdates usw. Dann habe ich die Füße abseits des Bodens, sitze meistens auf dem Bett, viel Ruhe, auch wenn nichts weh tut. Aber die Sohlen brauchen das.

Es ist aber auch eine Gelegenheit, mal Dinge zu notieren, die mir beim Laufen so durch den Kopf gehen, die aber nicht primär in den Reisebericht gehören.

Im Geiste und ganz praktisch bin ich viel mit Seume beschäftigt. Da ist zunächst mal die banale Herausforderung, zu ergründen, wo er langgelaufen sein könnte. In mir wächst aber auch der Respekt vor der Leistung dieses Mannes. Das fängt bei dem unglaublichen Kilometerpensum an, welches er Tag für Tag bewältigte. Er war so wie ich völlig auf sich gestellt, allerdings ohne Mobiltelefon und offenbar auch ohne viel Kartenmaterial. Er wird also neben der tägliche Marschiererei auch viel Zeit dafür verwendet haben, Leute nach dem Weg zu fragen. Oft hatte er Probleme mit der Beschaffung des „täglich Brot“, irrte hungernd durch nicht beleuchtete Straßen, fastete gezwungenermaßen den ein oder anderen Tag. Zum Teil war der Hunger in Italien damals so groß, dass die Leute schlicht nichts hatten, was sie Seume hätten verkaufen können.

Manchmal beneide ich Seume, denn er lief in einer unglaublich ruhigen Umgebung, ohne den Lärm von Autos, Zügen, Flugzeugen. Er traf auf eine kaum zerstörte Naturlandschaft und konnte Flüsse sehen, die sich ihre Wege frei wählten ohne den dauernden Zwang von Deichen oder betonierten Begradigungen. Er hatte keine endlose Monokultur zu ertragen. Weder Mobilfunkmasten noch Freileitungen aller Art schnitten den Horizont. Möglicherweise gab es weniger Zäune. Ein Dorf war ein Dorf und nicht eine sich endlos dahinziehende Kette von Eigenheimen.  Autobahnen und Schnellzugtrassen bildeten noch keine unüberwindlichen Barrieren. Es hatte keine Probleme, Leute um ein Quartier zu bitten. Kutscher drängten ihm Mitfahrgelegenheiten auf. Für kleines Geld fand er Gepäckträger.

Andererseits freue ich mich auch oft über die Gegenwart. Im Unterschied zu Seume brauche ich keine Pässe, muss nicht auf den Torschluss bei größeren Städten achten. Grenzübertritte registriert nur noch mein Mobiltelefon. Ich muss mich bei keiner Polizei melden. Ich werde nicht als Spion verdächtigt. Ich werde nicht ständig vor Räubern und Gesindel gewarnt, höchstens mal vor Bären. Ich kann überall bedenkenlos das Wasser aus der Leitung trinken. Nirgends – außer in Tschechien – muss ich Geld umtauschen und darauf achten, beim Wechselkurs nicht betrogen zu werden (auch in Tschechien nicht). Ja es reicht meistens sogar das kleine Plastikkärtchen, das ich neben das Lesegerät halte und bei kleineren Beträgen nicht mal meine PIN verlangt. Ich muss keine Angst haben vor willkürlichen Verhaftungen, vor der Zensur, vor der Willkür von Behörden, die meine Reise verzögern, weil sie bei der Ausstellung eines Passes trödeln. Ich kann jederzeit elektronisch Hilfe organisieren. Ich kann viel mehr Brückenüber Flüsse und Bäche benutzen, laufe oft auf glattem Asphalt. Ich muss nicht fürchten, dass mich ein Wirt auf gammeliges Stroh bettet, wenigstens kann ich vorher Hotelbewertungen lesen. Wo immer ich auch bin – ich kann meine Lieblingsschokoladensorte regelmäßig kaufen. Ich muss nicht befürchten, dass Briefe, die ich mit mir führe, verlorengehen oder konfisziert werden, denn für alles habe ich irgendein Backup.

Zu der Gegend hier schreibt Seume:

„Von Görz nach Gradiska sind die Berge links ziemlich sanft und man hat die großen Höhen in beträchtlicher Entfernung rechts: und wenn man über Gradiska nach Palma Nuova herauskommt, ist man ganz in der schönen Fläche des ehemaligen venezianischen Friaul, hat links fast lauter Ebene bis zur See und nur rechts die ziemlich hohen Friauler Alpen. Von Görz nach Udine stehen im Kalender fünf Meilen; aber Östreichische Offiziere versicherten mich, es seien gute sieben Meilen; und ich fand Ursache der Versicherung zu glauben. Palma Nuova war eine venezianische Grenzfestung, und nun hausen die Kaiserlichen hier. Sie exerzierten eben auf dem großen Platze vor dem Tore. Der Ort ist militärisch nicht ganz zu verachten, wenn er gut verteidigt wird. Man kann nach allen Seiten vortrefflich rasieren, und er kann von keiner nahen Anhöhe bestrichen werden.“

Wie es ihm sonst in Udine erging, am besten mal im „Spaziergang“ selbst nachlesen. Das Buch gibt es übrigens kostenlos und digital auf der Website des „Gutenberg-Projekt“.

Ich muss übrigens meine gestrige etwas abfällige Bemerkung zu Udine revidieren. Die Statd hat schon einiges zu bieten. Z.B. ein beachtliches Kunstmuseum mit einer gut gemachten Abteilung zur lokalen Geschichte der Fotografie. Es gibt viele kleine tolle Läden, und mindestens einen guten Schuster. Von zahllosen Cafes, Bistros und Restaurants ganz zu schweigen.

Heute wird es aber auch wieder mal Zeit, explizit all denen Danke zu sagen, die meine Reise offenbar regelmäßig verfolgen. Das bekomme ich ja nicht unbedingt mit. Umso mehr freue ich mich aber, wenn ich bei einem Telefonat feststelle, dass ich eigentlich so viel nicht erzählen muss, weil der Mensch am anderen Ende der Leitung das meiste schon gelesen hat. Ganz besonders bedanken möchte ich mich aber bei Malibu G., Bernd W., Hana S., Anja N., Gisa und Horst P., Stephanie M., Anna H. und Christian B., Beate K., Jorinde J, Manfred K., Norman B., Jens G., Christiane K., meine Kolleginnen und Kollegen in Leipzig und Jena und natürlich bei meiner Frau, die regelmäßig Likes oder ein Zeichen von sich geben oder sogar mal mit mir telefonieren. Ihr glaubt nicht, wie aufbauend das ist, wenn man fast 50 Tage immer nur allein ist, wenn man von kurzen Gesprächen mit Vertretern der Gastronomie oder der Hotellerie absieht.

Heute gibt es für mich noch eine besonders erfreuliche Veränderung: Alexander N., ein Freund aus Bayern, stößt mit der Bahn zu mir und wird mich für einige Tage wandernd begleiten. Wir haben uns bisher nur siebenmal – und immer jeweils nur für kurze Zeit – gesehen. Es ist beiderseitiges Vertrauen, was uns jetzt zusammenbringt, das Gefühl, dass das funktionieren kann. Ich freue mich am meisten darüber, jetzt einen ständigen, und darüber hinaus hoch gebildeten Gesprächspartner zu haben. Und weil wir uns eigentlich kaum kennen, wird es viel Gesprächsstoff geben.

Aber auch das sei betont: das Freundlichkeitslevel ist auf meinem Weg nach Süden kontinuierlich gestiegen. Das ist unglaublich, wie offen, hilfsbereit und neugierig die Menschen in Italien sind!