Tag 60 der Reise, von Rovigo nach Ferrara, 42 km, davon 15 km getrampt

english below

Beinahe wäre ich nicht losgekommen von Rovigo, denn es wurde noch ganz polnisch! Von Wanda, der Hausherrin, war ich zunächst etwas enttäuscht. Denn kurz nachdem ich von Booking.com die Bestätigung für das Quartier erhielt, rief sie mich an, ich könne leider nicht kommen, ich möge bitte stornieren. Sie habe übersehen, dass das Zimmer vor vier Wochen schon anderweitig vergeben worden sein. Das musste ich dann gestern Abend freundlich aber bestimmt ablehnen. Ich sah nicht ein, für Fehler anderer in Schwierigkeiten zu kommen. Und schwierig ist es tatsächlich, für Samstag in einer nichttouristischen Region Quartier zu bekommen, vor allem bezahlbares. Schließlich übersandte sie mir am Samstag dann noch eine Nachricht, ich könne kommen, müsse mir jedoch das Bad mit einer brasilianischen Familie teilen.

Heute beim Frühstück war ich dann der erste, und Wanda hat sich fast überschlagen mit dem Frühstück. Es gab richtiges Brot (Graubrot), Rührei und zum Schluss aus dem Kühlschrank noch eine Kakhi. Aus der Vitrine wurde für mich die gläserne Teekanne geholt, mit Siebeinsatz. Dann setzte sie sich zu mir an den großen Tisch im Wohnzimmer, das wie das ganze Haus mit alten Möbeln, Antiquitäten und vielen Bildern dekoriert war. Nun musste ich erzählen vom Woher und Wohin. Wanda spricht gut Englisch. Als sie bei meinem Beruf landete, erklärte sie, dass sie früher als Schauspielerin und Reiseleiterin gearbeitet hat. Und: sie kommt ursprünglich aus der Nähe von Poznan. Da habe ich doch gleich mal ein paar polnische Brocken ins Gespräch gemischt, und sie war begeistert. Weiter ging es dann von Solidarnosh, Ceslaw Njemen, Jaruzelski über Breschnew bis Putin. Zwischendurch drei Sätze Russisch und viel darüber wie jeder zu den genannten Personen, Sprachen usw. kam und steht. Wir waren uns in vielem einig, haben viel gelacht, und Putin verflucht. Sie hatte über drei Ecken deutsche Wurzeln, ich ein paar polnische.

Dann kamen die Brasilianer dazu und es hätte gut noch eine Stunde weitergehen können. Eine Stunde, die mir ohnehin fehlt, denn jetzt ist Dank Zeitumstellung schon um 17 h Schicht im Schacht mit Tageslicht. Das wird eine echte Herausforderung, denn in vielen Hotels gibt es erst ab 08.00 h  Frühstück. Um die Zeit hat die Sonne zukünftig schon die zweite Stunde angebrochen, und ich will eigentlich bei Sonnenaufgang los. Im dümmsten Fall habe ich nur noch achteinhalb Stunden Tageslicht. Da sind dreißig Kilometer kaum mehr zu schaffen.

Ich verließ Rovigo durch das gut erhaltene südliche Stadttor, welches Seume auf seinem Weg nach Ferrara gewiss auch durchschritten hat. Generell bin ich erstaunt, dass hier sehr viele Städte ihre mittelalterlichen Befestigungen, auch solche aus der Neuzeit, nicht geschleift haben.

Bald ging ich wieder über kleine Straßen, staubige Feldwege. Zuvor durch die nicht enden wollenden Industriegebiete, die es hier im Umland jeder Stadt gibt. Der Boden ist von den Flüssen planiert, die Bauern offensichtlich nicht sehr erfolgreich, die Baumafia umso mehr. Also geht man in die Fläche, was das Zeug hält. Ich überquere stillgelegte Bahnlinie, aufgegebene Kanäle, in deren grüner Brühe zu meinem großen Erstaunen fleißig geangelt wird.

Unterwegs treffe ich Victoria, etwa 7, die mit ihren Eltern den Sonntagsspaziergang macht. Stolz erklärt sie, dass sie auch gerne wandert und schon die große Runde ums Dorf schafft. Die Eltern übersetzen. Dann biege ich ab und noch lange winken wir uns aus der Ferne zu.

Der Boden auf den Feldern ist ausgedörrt. Auch an einem weitgehend trocken gefallenen Entwässerungsgraben gehe ich kilometerweit entlang. Im Schlamm entdecke ich Spuren der verschiedensten Tiere und auch große Muschelschalen. So wie im morgendlichen Rovigo ist es auch jetzt erfreulich still um mich. Es gibt sie also noch: Orte mit Stille. Die Gegend ist ärmer hier, was man an vielen aufgegebenen Bauerhöfen sieht. Früher waren die mal logistisch gut gelegen zwischen den Feldern und Gräben. Heute spielt die Entfernung für den Traktor keine Rolle mehr.

Endlich klettere ich auf einen Damm, so hoch wie ein dreistöckiges Haus. Links von mir muss der Po sein, versteckt hinter jungen Pappeln. Vom Damm schaut man rechts weit ins Land. Es dauert einige Kilometer, bis ein Stück Wasser zwischen den Bäumen zu sehen ist.

In Polesolle sehe ich den Fluss endlich in seiner ganzen Breite. Dort verlasse ich den Deich, denn so wie einst Seume winkt mir heute etwas Erleichterung:

„Das Wasser hatte hier überall außerordentlichen Schaden getan, wie Du gewiß schon aus den öffentlichen Blättern wirst gehört haben; vorzüglich hatte der sogenannte canale bianco seine Dämme durchbrochen und links und rechts große Verwüstungen angerichtet. Es arbeiteten oft mehrere hundert Mann an den Dämmen und werden Jahre arbeiten müssen, ehe sie alles wieder in den alten Stand setzen. Hier sah man empörende Erscheinungen der Armut in einem ziemlich gesegneten Landstriche; und ich schreibe dieses auch mit dem Unheil zu, das die Flüsse und großen Kanäle hier sehr oft anrichten müssen. Da die Straße ganz abscheulich war, ließ ich mich bis Ponte di Lagoscuro auf dem Po hinauf rudern , und zahlte fünf Ruderknechten für eine Strecke von drei Stunden die kleine Summe von zehn Liren. Der Po ist hier ein großes, schönes, majestätisches Wasser, und die heitere, helle Abendsonne vergoldete seine Wellen, und links und rechts die Ufer in weiter, weiter Ferne.“

Ponte di Lagoscuro liegt heute nicht mehr am Po, sondern am Rand der Gemeinde Santa Maria Maddalena. Da ich nicht genau wusste, wo Seume seine Bootsreise begann, bin ich zum vorgenannten Ort von Polesolle aus getrampt. Das ging erstaunlich gut. Meine Trampstelle hatte zwar gute Haltemöglichkeiten und war von weitem zu sehen, auch war die Geschwindigkeit dort begrenzt (was die Italiener nicht wirklich interessierte), aber ich stand mit dem Rücken zur Sonne, so dass mein Gesicht und meine Flaggenbanderole im Schatten waren. Umso mehr musste ich ein strahlendes Lächeln zum Einsatz bringen. Dazu habe ich mein gelbes Halstuch an den Wanderstad geknüpft und dieses wie eine Flagge in die Luft gereckt.

Nach etwa zwanzig Minuten hatte ich Erfolg. Ein Transporter mit einem Altersgefährten hielt, er hatte Kartons mit Espressotassen geladen und fuhr nach Sante Maria Maddalena, setzte mich kurz vor der Brücke über den Po ab. Der Po führte erstaunlich viel Wasser, gab es doch im Sommer eine heftige Dürre.

Von da musste ich durch einen Vorort und noch durch die ganze Stadt marschieren, denn die Suche nach einem bezahlbaren Hotel war ergebnislos. Glück hatte ich bei AirBnB und Rita, die in einer Neubausiedlung am südlichen Stadtrand ein Zimmer vermietet. Das ist schlicht und preiswert. Ich bleibe auf Distanz, denn es ist unklar, ob Rita einen Raucherhusten hat oder Schlimmeres. Im Flur zwei Taschen mit dicken Ordern: Material von Scientology. Da sie nur drei Sätze Englisch kann, wird es wohl morgen nicht so ein schönes Gespräch geben wie heute bei Wanda.

Und hier die Route auf Komoot: https://www.komoot.de/tour/967902165?ref=wtd

In Rovigo
Das Stadttor von Süden aus gesehen. Hier muss Seume langgegangen sein.
Straße ins Nichts
Alte Bahnstrecke
Kanal am Stadtrand von Rovigo
Bauland
Hafen am Canale Bianco
Verlassenes Gehöft
Trockengefallener Entwässerungsgraben
Blick vom Damm des Po
Blick auf den Po
Der Damm ist so hoch, dass man auf die Dächer der Häuser schauen kann. Die Villa Morosini.
Der Po von der Brücke aus
Nothing to tell
Am Bahnhof von Ferrara
Die Straße in die Vorstadtsiedlung. Null Fußweg.

Day 60 of the trip, from Rovigo to Ferrara, 42 km, of which 15 km hitchhiked.

I almost didn’t get away from Rovigo, because it still became all Polish! From Wanda, the landlady, I was a little disappointed at first. Because shortly after I received the confirmation for the accommodation from Booking.com, she called me, I unfortunately could not come, I should please cancel. She had overlooked that the room four weeks ago had already been assigned elsewhere. Yesterday evening I had to decline in a friendly but firm manner. I didn’t want to get into trouble for the mistakes of others. And it is indeed difficult to get a room for Saturday in a non-touristy region, especially an affordable one. Finally, she sent me a message on Saturday that I could come, but I would have to share the bathroom with a Brazilian family.

Today at breakfast I was the first one, and Wanda was almost over the top with the breakfast. There was real bread (gray bread), scrambled eggs and finally a kakhi from the refrigerator. The glass teapot was fetched for me from the cupboard, with a strainer insert. Then she sat down with me at the big table in the living room, which was decorated like the whole house with old furniture, antiques and many pictures. Now I had to tell about the where from and where to. Wanda speaks good English. When she landed on my profession, she explained that she used to work as an actress and tour guide. And: she originally comes from near Poznan. So I mixed a few Polish words into the conversation, and she was thrilled. The conversation continued with Solidarnosh, Ceslaw Nyemen, Jaruzelski, Brezhnev and Putin. In between three sentences of Russian and much about how everyone came to and stands by the people, languages, etc. mentioned. We agreed on many things, laughed a lot, and cursed Putin. She had German roots through three corners, I had some Polish.

Then the Brazilians joined us and it could well have gone on for another hour. An hour that I miss anyway, because now, thanks to the time change, it’s already 5 p.m. with daylight. This will be a real challenge, because in many hotels there is breakfast only from 08:00 h. At the time the sun has in the future already started the second hour, and I actually want to go at sunrise. In the stupidest case I have only eight and a half hours of daylight. There thirty kilometers are hardly to be created more.

I left Rovigo through the well-preserved southern city gate, which Seume certainly also passed through on his way to Ferrara. In general, I am amazed that very many towns here have not razed their medieval fortifications, even those from modern times.

Soon I was walking again along small roads, dusty dirt roads. Previously, through the never-ending industrial areas that exist here in the hinterland of every city. The ground is leveled by the rivers, the farmers obviously not very successful, the construction mafia even more so. So one goes into the surface, what the stuff holds. I cross disused railroad lines, abandoned canals, in whose green broth, to my great astonishment, people are diligently fishing.

On the way I meet Victoria, about 7, who is taking the Sunday walk with her parents. She proudly explains that she also likes to hike and already manages the big loop around the village. The parents translate. Then I turn off and for a long time we wave to each other from a distance.

The ground in the fields is parched. I also walk for kilometers along a drainage ditch that has largely dried up. In the mud I discover traces of the most different animals and also large mussel shells. Just as in Rovigo in the morning, it is now pleasantly quiet around me. So they still exist: places with silence. The area is poorer here, which can be seen in the many abandoned farms. Once they were logistically well located between the fields and ditches. Today, the distance no longer plays a role for the tractor.

Finally, I climb an embankment as high as a three-story house. To my left must be the Po, hidden behind young poplars. From the dam I look far into the country on the right. It takes a few kilometers until a piece of water can be seen between the trees.

In Polesolle I finally see the river in its full width. There I leave the dike, because as once Seume beckons me today some relief:

„The water had done extraordinary damage everywhere, as you will have heard from the public papers; especially the so-called canale bianco had broken through its dams and caused great devastation to the left and right. Several hundred men often worked on the dams and will have to work for years before they restore everything to its former state. Here one saw outrageous manifestations of poverty in a rather blessed stretch of land; and I attribute this also to the mischief that the rivers and large canals must very often wreak here. As the road was quite abominable, I had myself rowed up the Po as far as Ponte di Lagoscuro , and paid five oarsmen the small sum of ten lira for a distance of three hours. The Po here is a great, beautiful, majestic water, and the serene, bright evening sun gilded its waves, and to the left and right the banks far, far away.“

Ponte di Lagoscuro is no longer on the Po River, but on the edge of the municipality of Santa Maria Maddalena. Not knowing exactly where Seume began his boat journey, I hitchhiked to the aforementioned place from Polesolle. This went surprisingly well. My hitchhiking spot had good stopping points and could be seen from far away, also the speed there was limited (which the Italians didn’t really care about), but I had my back to the sun, so my face and flag banderole were in the shade. All the more I had to bring a bright smile to bear. To do this, I tied my yellow bandana to the Wanderstad and raised it in the air like a flag.

After about twenty minutes I had success. A van with an old age companion stopped, he had loaded boxes with espresso cups and drove to Sante Maria Maddalena, dropped me off just before the bridge over the Po. The Po had an astonishing amount of water, since there had been a severe drought in the summer.

From there I had to march through a suburb and still through the whole city, because the search for an affordable hotel was fruitless. I was lucky with AirBnB and Rita, who rents a room in a new housing development on the southern edge of town. This is simple and inexpensive. I stay at a distance, because it is unclear whether Rita has a smoker’s cough or worse. In the hallway two bags with thick orders: Material from Scientology. Since she can only speak three sentences in English, there will probably not be such a nice conversation tomorrow as there was today with Wanda.