Tag 81 der Reise, Ruhetag in Marino

Eigentlich wollte ich meinen Ruhetag in Rom machen, habe dann aber gezögert, weil ich glaubte, Rom sei insgesamt recht teuer. Leider gilt das auch für die Vororte im Süden der Stadt, sicher auch beeinflusst durch den hier gelegenen Flughafen. Daher finde ich jetzt kaum mehr Quartiere unter 70 € die Nacht, abgesehen von irgendwelchen Schlafsälen, auf die ich keine Lust habe.

Aber mein rechter Fuß braucht dringend eine Pause. Das Gelenk ist etwas geschwollen. Der linke, der eigentlich durch Arthrose geschädigt ist, macht hingegen keinerlei Probleme. Ich musste auch mal Wäsche waschen, die zum Trocknen mehr als eine Nacht braucht. Und man baucht auch mal Zeit zum Reflektieren.

Was mir auffällt ist, dass ich mich kaum mehr erinnere, was ich eigentlich vor einer Woche gemacht habe. Die Eindrücke sind derart vielfältig, quantitativ einfach überwältigend, dass ich heilfroh bin, dass ich täglich einen kleinen Reisebericht geschrieben habe, dass Komoot, die Wander-App, die ich benutze, im Hintergrund fleißig den Weg aufzeichnet, Statistiken führt. Schaue ich mir die auf Komoot aufgezeichneten Wanderungen an, die längere Zeit zurückliegen, staune ich: Mensch, da warst du ja auch, verdammt, entlang dieser Straße, das war ätzend, da oben im Karst, das war faszinierend, schade, dass ich nicht mehr an der Küste bin usw. Ich stelle mir vor, wie das wohl vor 40 Jahren gewesen wäre.

Ich hätte die Filmrollen nummerieren müssen, damit ich sie chronologisch zuordnen kann, denn es wären vermutlich 50 Stück gewesen, 36 Aufnahmen für 2 Tage. Dann wiederum Tagebuch schreiben müssen, gut das mache ich heute auch. Ich weiß nicht, wie genau die Karte hätte sein müssen, die ich mitgenommen hätte. Wanderkarten für ein so großes Gebiet, hätten mehrere Kilo gewogen. Eine grobe Karte hätte sicherlich dazu geführt, dass man manchen Umweg gegangen wäre. Vielleicht hätte ich „abgelaufene“ Karten mit eingezeichneten Routen von unterwegs immer nach Hause geschickt.  So, wie ich heute sorgfältig Datensicherung betreibe, hätte ich damals panische Angst um den Verlust der Filme gehabt oder davor, sie wochenlang bei vergleichsweise hohen Temperaturen im Rucksack zu transportieren. Ich hätte einen Sprachführer oder ein kleines Wörterbuch mitgenommen und viel, viel Bargeld, Reisechecks oder ähnliches. Und vermutlich hätte ich auch Zelt und Schlafsack schleppen müssen, denn feste Quartiere hätte ich mir damals nicht leisten können. Alles wäre etwas umständlicher gewesen. Die Gewichtsersparnis und den zusätzlichen Komfort, den allein ein Smartphone bewirkt, ist unglaublich. Daher hüte ich es auch wie meinen Augapfel. Aber auch die einheitliche Währung im Euroraum und das bargeldlose Zahlen sind ein Segen.

Umso größer ist meine Bewunderung für Seume und all seine Zeitgenossen, die damals gereist sind. Ich glaube, ich hätte schon angesichts der hygienischen Zustände eine Krise bekommen. In Seumes Fall staune ich aber auch über die unglaubliche tägliche Kilometerleistung. Er hat 40, teilweise 60 km  pro Tag bewältigt, angesichts der kurzen Tageslichtphasen teilweise im Dunkeln.

Ich bewundere aber auch Seumes psychische Resilienz. Niemand ist ihm auf Facebook gefolgt, niemandem wäre es aufgefallen, wenn er aufgegeben hätte. Und es hätten auch nur wenige Notiz genommen, wenn er schwer erkrankt oder verhaftet worden wäre. Er hatte ja nicht nur Freunde. Ich staune aber auch angesichts seiner intellektuellen Leistung. Er muss sich auf die Reise gut vorbereitet haben, denn er hat gezielt auch einige Sehenswürdigkeiten und Kunstschätze aufgesucht, hatte ein profundes Wissen zur Antike und den aktuellen politischen Ereignissen. Er war in Italien besser vernetzt, als ich es heute bin. Und er verfügte offenbar auch über gute geografische Kenntnisse. Bei allen Macken die er hatte, bei allen Zweifeln daran, ob er wirklich alles gelaufen ist und nicht doch öfter auf Fuhrwerken mitgefahren ist – er bleibt ein großes Vorbild.

Seume ist für mich aber auch ein Vorbild, weil es ihm gelungen ist, sich von der Ideologie der Kirche seiner Zeit weitgehend frei zu machen. Das war mutig, vor allem auch mutig, weil er seinen Zweifel an der Wohltätigkeit dieser Institution offen in Wort und Schrift vertrat.

Bemerkenswert ist auch sein Humanismus, seine Empathie für Arme und Schwache, sein Stolz, sich den Vermögenden nicht blind anzubiedern. Er betrachtet die Menschen, denen er auf seiner Reise begegnet, zum Teil mit Ironie, aber kaum mit Arroganz.

Seumes Kritik an der Kirche kann man in der Umgebung von Rom gut nachvollziehen. Es ist einfach unglaublich, mit welcher Anzahl von Kirchen, Kapellen, Kruzifixen, Pilgerwegsmarkierungen, Namen von Städten und Straßen die Kirche hier ihre Zeichen der Macht wie selbstverständlich platziert hat. Würde man die Namen von Städten und Straßen in Italien alphabetisch sortieren – der Buchstabe „S“ würde die Liste angesichts der unzähligen „Sancti“ dominieren. Könnte man sich vorstellen, in Deutschland würde ein Gewerbegebiet (!) nach dem heiligen Sebastian benannt? Gibt es in Italien durchaus.

Immerhin: vereinzelt hängen Regebogenflaggen an Häusern. Natürlich nicht an Pfarrhäusern.

Der Fortschritt ist euch auf den Fersen.

Day 81 of the trip, rest day in Marino, 20.11.2022

Actually, I wanted to make my rest day in Rome, but then hesitated because I thought Rome was quite expensive overall. Unfortunately, this also applies to the suburbs in the south of the city, certainly also influenced by the airport located here. Therefore, I now hardly find quarters under 70 € a night, apart from any dormitories, which I have no desire.

But my right foot urgently needs a break. The joint is a bit swollen. The left one, which is actually damaged by arthritis, on the other hand, doesn’t cause any problems. I also had to do some laundry, which needs more than one night to dry. And one also needs time to reflect.

What strikes me is that I hardly remember what I actually did a week ago. The impressions are so varied, quantitatively simply overwhelming, that I’m glad that I wrote a little travelogue every day, that Komoot, the hiking app I use, diligently records the way in the background, keeps statistics. When I look at the hikes recorded on Komoot that go back a long time, I’m amazed: gosh, that’s where you were, heck, along that road, that sucked, up there in the Karst, that was fascinating, too bad I’m not on the coast anymore, etc. I imagine what that would have been like 40 years ago.

I would have had to number the rolls of film so that I could chronologically assign them, because there would probably have been 50 of them, 36 shots for 2 days. Then again I would have had to write diaries, well I do that today. I don’t know how accurate the map would have had to be that I would have taken with me. Hiking maps for such a large area, would have weighed several kilos. A rough map would certainly have led to taking many a detour. Perhaps I would have always sent home „expired“ maps with routes marked on them from the road. The way I carefully back up data today, back then I would have been panicky about losing film or carrying it in a backpack for weeks at a time in comparatively high temperatures. I would have taken a phrasebook or a small dictionary and lots and lots of cash, traveler’s checks or the like. And I probably would have had to lug a tent and sleeping bag, too, because I couldn’t have afforded permanent quarters at the time. Everything would have been a bit more cumbersome. The weight savings and added convenience of just having a smartphone is incredible. That’s why I guard it like the apple of my eye. But the single currency in the euro zone and cashless payments are also a blessing.

All the greater is my admiration for Seume and all his contemporaries who traveled back then. I think I would have had a crisis already in view of the hygienic conditions. In Seume’s case, however, I am also amazed at his incredible daily mileage. He managed 40, sometimes 60 km per day, in view of the short daylight phases partly in the dark.

But I also admire Seume’s psychological resilience. No one followed him on Facebook, no one would have noticed if he had given up. And few would have taken notice if he had fallen seriously ill or been arrested. He didn’t just have friends, after all. But I am also amazed at his intellectual achievement. He must have prepared himself well for the trip, because he specifically also visited some sights and art treasures, had a profound knowledge of antiquity and current political events. He was better connected in Italy than I am today. And he obviously had good geographical knowledge as well. For all the quirks he had, for all the doubts about whether he really walked everything and didn’t ride on carts more often – he remains a great role model.

But Seume is also a role model for me because he succeeded in freeing himself to a large extent from the ideology of the church of his time. That was courageous, especially because he openly expressed his doubts about the beneficence of this institution in speech and writing.

His humanism, his empathy for the poor and the weak, his pride in not blindly pandering to the wealthy are also remarkable. He views the people he meets on his journey, in part with irony, but hardly with arrogance.

Seume’s criticism of the church can be well understood in the surroundings of Rome. It is simply unbelievable with what number of churches, chapels, crucifixes, pilgrimage route markers, names of cities and streets the church has placed its signs of power here as a matter of course. If one were to sort the names of cities and streets in Italy alphabetically – the letter „S“ would dominate the list in view of the countless „Sancti“. Could one imagine that in Germany an industrial park (!) would be named after St. Sebastian? It certainly exists in Italy.

After all, there are occasional flags of the bows of the Regebogen hanging on houses. Not on parsonages, of course.