Vom Rand der Stadt

05.10.2023

Heute sind wir zur östlichen Endstation der Metrolinie M1 gefahren und von dort Richtung Innenstadt gewandert.

An der Endstation der Metro M1 in Lisowa.

Vom Bezirk Browary sind das ca. 12 km. Die Stadt besteht hier überwiegend aus Punkt-Hochhäusern. Ab und zu stehen flachere Blocks aus den 60iger Jahren und auch versprengte Einfamilienhäuser, vor denen auch mal ein teures Auto parkt.

Es gibt sehr viele Fußgängertunnels. Behinderte sind in der Stadt aber irgendwie nicht vorgesehen.
An einem Spielplatz
Auch wenn dieser Abfallbehälter improvisiert ist: Kyiv ist ausgesprochen sauber. Es liegt deutlich weniger Müll auf den Straßen als in Berlin. Selbst das Herbstlaub wird von den Wegen gefegt.
Die Züge der Metro sind eigentlich blau. Aber oft sind sie bunt beklebt und von Graffitiy-Künstlern bemalt, und zwar offenbar auf legale Weise.
Platzhalter vor einer Grundstückseinfahrt. Ein Readymade.
Kyiv ist eine Autostadt. Und sie ist trotz der vielen Fußgängerzonen in der Innenstadt absolut keine Frußgängerstadt, wie dieser nicht vorhandene Bahnübergang zeigt.

Norman interessiert sich für die architektonische Form von Lüftungsschächten und schleppte den ganzen Tag ein schweres Stativ mit sich herum. Aber die Metro verläuft fast nur oberirdisch. Wir haben uns entschieden, auf Bilder der zwei Schächte, die wir fanden, zu verzichten, denn Metros sind sensible Infrastrukturobjekte.

Norman auf der Dniprobrücke, von der wir anfangs nicht wussten, ob sie überhaupt für Fußgänger freigegeben ist,

Heute wurde für uns der Krieg auch praktisch sichtbarer, denn die Innenstadt ist teilweise weiträumig absperrte mit Militär, Stacheldraht, improvisierten Zäunen und vielen Posten. Um zum Militärkrankenhaus zu kommen für eine Blutspende, hätte ich einen Passierschein gebraucht. Morgen ein neuer Versuch bei Roten Kreuz der Ukraine

Beim Überqueren der Dniprobrücke stießen wir auf ausgebaute Checkpoints der Armee und bereitliegende Panzersperren. Was wir tagsüber noch irgendwie ein wenig belächelten, weil die Befestigungen nicht wirklich lange widerstehen würden, gewann am Abend dann doch noch mal eine ganz andere Dimension.

Nach der Vernissage einer Ausstellung (witzigerweise im Geburtshaus Bulgakows, dass ich gestern mangels Bargeld nicht betreten konnte) sahen wir im Kino einen Dokumentarfilm.

„20 Tage in Mariupol“ beschreibt die Besetzung der Stadt durch die Russen gleich zu Beginn des Krieges. Der Film ist nichts für schwache Nerven. Es ist ein Zusammenschnitt von Filmsequenzen des (Pulitzer)preisgekrönten Journalisten Mstislav Chernov. Ungeschnittenes Material, vor allem Filmsequenzen, aus der umzingelten Stadt, von denen man sicherlich das eine oder andere in den Nachrichten gesehen hat. Aber die nachrichtentauglichen Filmschnipsel, auch Fotografien, im Kontext längerer Einstellungen zu sehen, gibt dem Ganzen eine ungeheure Wucht.

Man ist dabei, wie die Polizei Leute beruhigt, keine Panik zu haben, während Minuten später im Nachbarhaus eine Granate einschlägt. Heulende Kinder, die wissen, das ihr Vater irgendwo in der Stadt auf Arbeit ist, Plünderer, die von verzweifelten Ladenbesitzerinnen beschimpft werden, alte Menschen, die es aufgegeben haben, sich irgendwie zu schützen, und mit iprovisierten Wägelchen über die Straßen ziehen auf der Suche nach Wasser und Brennholz. Leute die auf offenem Feuer vor quarlemenden Häuserblocks Wasser abkochen. Der verschüttete, schwerverletzte junge Feuerwehrmann mit dem apathischen Blick – gerade wurde die letzte funktionierende Feuerwache von einer Fliegerbombe getroffen. Ein Polizeichef, der die Journalisten immer wieder durch noch befahrbare Straßen lotst, obwohl er eigentlich verzweifelt nach Struktur sucht.

Am schlimmsten aber sind die Szenen aus dem Krankenhaus. Es galt als sicherer Ort, auch wenn die oberen Etagen geräumt waren. Man sieht ungeschnitten Notoperationen, Verletzte, die stöhnend auf dem Flur warten, einen Vater, der heulend über seinen Sohn gebeugt ist, dem auf dem Fußballplatz die Beine abgefetzt wurden – verblutet. Ärzte, die versuchen, eine Vierjährige mit Elektroschocks zu reanimieren, währen die Eltern in stumpf auf dem Flur sitzen, vergeblich hoffend.

Zwischendurch Ausschnitte aus dem russischen Fernsehen, die behaupten, die Szenen, die man eben gesehen hat, seien mit professionellen Schauspielern inszeniert worden. Immer wieder hört man: „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.“ Nein, Wahrheit kann nicht sterben, denn es gibt eine Wahrheit. Immer.

Familien, die nicht wissen, was gefährlicher ist: in der Stadt bleiben, oder sich einem Evakuierungskonvoi anschließen, von dem nicht klar ist, ob er doch beschossen wird, ob er überhaupt losfährt.

Schließlich ist das Krankenhaus von Panzern umstellt. Drei mutige Soldaten, die teils nicht mal Helme tragen, lotsen die Journalisten unter Feuer an den Rand der Stadt. Allen ist klar, dass die Bilder und Filme raus müssen, gezeigt werden müssen. Den Journalisten gelingt die Flucht durch mehrere russische Chepoints, weil der Fahrer ihres Pkw, ein Familienvater, stur behauptet, die Mitfahrer seien Verwandte.

Nach dem Kino auf der Straße schauen wir uns an: wir müssen die Reset-Taste drücken in unseren Köpfen. Alles, was wir hier an Kunst produzieren wollen, erscheint banal im Vergleich zu dem, was wir eben gesehen haben.

Trotzdem: Die AfD will alles Intellektuelle aus den Theatern verbannen, am besten nur noch deutsche Klassik soll gespielt werden. Die Nazis haben die Lehrer lächerlich gemacht und die modernsten Künstler verfemt. Und auch Putin will Kultur zerstören, die ukrainische sowieso, aber auch Kultur, die einfach in der Ukraine stattfindet. Es ist also notwendig, sich im Krieg mit Kunst zu beschäftigen.

Heute früh (6.10.) ein Gespräch mit Norman und Sophie. Sie ist eine der gastierenden Künstlerinnen hier und kam zu uns zu einem gemeinsamen Frühstück. Ist Kunst Luxus? Wieviel Luxus ist legitim im Krieg? Überhaupt, in einer Welt voller ungelöster Probleme? Warum haben in der Stadt die Edelboutiquen geöffnet? Darf man mit einem spritfressenden SUV herumfahren, während immer wieder aufgerufen wird, Geld zu sammeln für Fahrzeuge, die an der Front gebraucht werden? Dürfen wir in Berlin ruhig schlafen, während Ukrainer für die Durchsetzung allgemeinster Regeln des Völkerrechts kämpfen, für die Unversehrtheit ihrer Grenze?

Sophie berichtet von einem ukrainischen Künstler, dessen Arbeiten aus der Ferne von Freunden gekauft werden, die an der Front sind. Für die Zeit nach dem Krieg? Der Künstler wiederum spendet die Hälfte des Erlöses für die Armee. Seltsame Kreisläufe. Auch im Kopf.