Von Berlin nach Kyiv
02.10.2023
Ich erinnere mich, die Strecke zwischen Deutschland und der Ukraine zuletzt im Herbst 2013 gefahren zu sein. Damals kam ich von einer Konferenz in Lwiw, fuhr mit dem Nachtzug nach Tarnow, wo ich mir ein Auto mietete, um in den Beskiden Orte des 1. Weltkriegs zu fotografieren. Es ist schon dunkel vor Przemysl und ein niedriger Blutmond steht über dem flachen Land, den man von Weitem für eine skurrile Leuchtreklame halten könnte.

In 2013 wurde die Bahnstrecke nach Krakow erneuert. Der Zug schlich über endlose Baustellen. Heute rast er mit knapp 200 km/h Richtung Przemysl, dem letzten großen Bahnhof vor der ukrainischen Grenze. Nie hätte ich erwartet, welche tragische Bedeutung diese schnelle Bahnstrecke einmal haben könnte, als eine der Lebensadern für die bedrängte Ukraine.
Ich mag die polnische Landschaft. Die zahllosen Brachen des alten Agrarlands sind ein romantisches Symbol des Niedergangs einer alten Welt, die jetzt von Kaczinsky und seinen miefigen Gesellen regiert wird, was man sich irgendwie nicht vorstellen kann, wenn der Zug hält auf dem großzügig modernisierten Bahnhof in Krakow. Am Wochenende gab es in Warschau eine gigantische Demonstration der – wie immer in Autokratien – reichlich zerstrittenen Opposition mit immerhin einer Million Teilnehmern.
Dennoch, mit Polen verbinden mich viele gute Erinnerungen, vor allem an schöne Reisen. Und längst sind die verdorrten verwandtschaftlichen Wurzeln, auf die mein Name hindeutet, durch einige frisch erblühte Freundschaften ersetzt.
Die Reise nach Kyiv ist ein zwiespältiges Unterfangen. Mein jüngster Sohn macht mir Vorwürfe, weil ich dorthin fahre, einer Einladung in eine Künstlerresidenz folgend. Er meint, ich hätte so viele Qualifikationen, mit denen ich mich vor Ort nützlich machen könnte. Warum ausgerechnet Kunst? Gut, ich werde zweimal Blut spenden gehen. Aber dennoch darf ein Krieg nicht bedeuten, dass Kunst unterbleibt. Und gemeinsam mit Norman Behrendt werde ich im Künstlerhaus im alten Institut für Automatisierungstechnik nicht nur ein kleines Projekt realisieren, sondern vor allem den Austausch mit ukrainischen Künstler/innen suchen, zeigen, dass sie gerade jetzt zu Europa und seiner Kunstszene gehören.
Im Zug wechseln die Begleiter im Abteil. Ein deutsches Paar will sich auf die Spur von Ahnen in Breslau begeben. Polnische Weggefährten kommen und gehen. Zuletzt sitzt ein älteres ukrainisches Paar in unserem Abteil, leider ohne alle Englischkenntnisse und etwas scheu. Aber gerade habe ich mir für den Google-Translater Ukrainisch heruntergeladen, um einige Vokabeln zu lernen. Also doch ein kleines Gespräch. Die beiden erklären mir, wie das mit dem Grenzübertritt funktioniert. Und am Bahnhof in Przemysl folgen wir ihnen einfach.
Wir laufen durch den Tunnel unter den Gleisen und landen an einem Gebäude für die Grenzabfertigung, vor dem sich eine Schlange mit gut 100 Leuten windet, die anstehen und warten. Unser Zug war relativ pünktlich, kurz nach 21.00 h sind wir angekommen, und um 23.30 h soll es weitergehen. Aber die Schlange steht vor einer verschlossenen Tür mit dem Schild „Zu den Zügen in die Ukraine“. Aus dem Gebäude tröpfeln am anderen Ende Leute mit Rollkoffern, die offenbar gerade mit dem Zug angekommen sind. Man sieht durch die verhangenen Scheiben nicht, was im Gebäude passiert. Aber drin stehen die Maschinen zur Kontrolle von Gepäck, wie sie auch auf Flughäfen im Einsatz sind. Werden hier alle Gepäckstücke kontrolliert? Nur bei der Einreise? Oder sollen die Ausreisenden auch kontrolliert werden?

Die Schlange bewegt sich keinen Zentimeter, denn die Tür ist verschlossen. Vorn bildet sich eine kleine Traube aus Frauen mit Kleinkindern, auch ein Rollstuhlfahrer steht vorn in der Reihe. Es ist dunkel und kalt, und wir stellen uns vor, wie es wohl bei Regen und Kälte hier zugehen muss, denn nur der vordere Teil der Schlange steht unter einem Vordach. Es gibt keine Bänke, für die meisten Menschen kein Dach, keinen Windschutz, nur ein einziges Dixiko neben einer überquellenden Mülltonne. Und die ansonsten so geschäftstüchtigen Polen sind auch nicht auf die Idee gekommen, hier einen Kiosk für warme Getränke hinzustellen.
Nach einer Stunde drehe ich mich um und sehe, dass die Schlange auf etwa 500 m angewachsen ist. Ich schätze, dass mindestens 500 Menschen warten, überwiegend Frauen, einige wenige Männer. Es geht ausgesprochen ruhig und gelassen zu. Kein Murren, keine aufflammende Empörung. Erst nach zwei Stunden, gegen 23.00 h öffnet sich die Tür des Gebäudes für die Grenzabfertigung. Nun werden Gruppen von je etwa 30 Personen eingelassen. Etwa zu der Zeit, zu der unser Zug abfahren soll, bekommen auch wir Einlass und sehen, dass an ganzen drei Schaltern die Pässe kontrolliert werden.
Gegen 24 h steigen wir in unseren Zug. Er besteht aus fabrikneuen Waggons aus Korea. Hunday ist der Hersteller. Es sitzen immer fünf Passagiere 3 + 2 nebeneinander. Im Unterschied zum Eurocity Berlin – Przemysl funktionieren die Steckdosen. Leider passt die große Kapazität an Sitzplätzen nicht zum verfügbaren Raum für Gepäck. So helfen wir ein wenig beim Stapeln und Stauen, aber können uns nicht vorstellen, wie die Situation wird, wenn alle Plätze belegt sind.
Auf den Displays an der Waggondecke läuft Werbung. Bunte Farben in einem guten Design. Werbung für Mammografie, Comics zur ukrainischen Geschichte, Comics die vor typischen Situationen von Korruption warnen und zum Nutzen einer entsprechenden Hotline auffordern. Videoclips mit viel Blau, die eine schöne europäische Zukunft verheißen. Werbung für Smartwatches, das Iphone15 und Online-Nachhilfe. Ja und natürlich auch Heldenfilme, auf denen ich den Einsatz eines rückstoßfreien Geschützes sehe, an dem ich vor mehr als 40 Jahren einmal ausgebildet wurde, und von dem ich weiß, dass man damit nur schießen kann, wenn man Blickkontakt zu Gegner hat, was wiederum bedeutet, dass man nach dem ersten Schuss in einer riesigen Staubwolke steht und für die überlebenden Teile des Gegners ein leicht zu findendes Ziel abgibt.
Dieser blitzende moderne Zug mit den perfekten Werbeclips passt nicht wirklich zu einem Land, das gerade einen brutalen Überfall abwehren muss. Es wirkt, als würde es neben der Zeit an der Front noch eine andere Zeit geben, in der die Uhren einige Jahre vorgehen, in einer schönen Zukunft ticken.
Jetzt ist es kurz vor eins. Vor mir sitzt ein Mann, der so laut schnarcht, dass eine ältere Dame neben ihm ihn schon wütend anfauchte, weil sie nicht schlafen kann. Ein Baby schreit. Eine schnarrende Durchsage, und jetzt fährt unser Zug tatsächlich los. Sehr pragmatisch verspätet, und ich vermute, niemand in der großen Schlange wurde zurückgelassen. Tschüß Polen, welcome to Ukraine.